Marc Sinan

Fatma, die Starke

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  1. Akt

 

1

 

Johann Georg von Spiegel, ein junger sächsischer Offizier, euphorisch noch vom Blutrausch der Schlacht, begehrt ein schönes, namenloses Mädchen. Zwischen anderen Gefangenen ist sie auf dem Weg nach Dresden in einer Kutsche, die Spiegel eskortiert. Er, der Sieger, möchte sie für sich, seine Gier an ihr stillen und sie, als sein Eigentum, zum eignen Vorteil nutzen, in einer Gesellschaft, die besinnungslos nicht genug bekommen kann von Exotismus und Zerstreuung.

 

Das Mädchen,16 Jahre alt, unter Schock, heißt Fatma. Sie ist gewiss: alle, die ihr lieb sind, Mutter, Vater und ihr geliebter Selim, sind ermordet, ihre Heimat für immer verloren, sie ausgeliefert unbekannten Schlächterhänden der barbarischen Sachsen.

 

(Das Trauma entfesselt ihre Sinne. Ihr erscheint ein Tulpar, ein Pegasus, als mächtiges blutüberströmtes Wesen, das sie umfliegt. Die Kutsche wird von ihm und von fünf weiteren Tulparen gezogen, die sie in die Lüfte heben.)

 

2

 

Fatma ist sprachlos in der neuen Welt, denn sie beherrscht nur Türkisch. Sie besingt ihr Schicksal, die Zähmung ihres Albtraums. Ihr erscheinen: Mutter, Vater, Selim, eine fremde, mächtige Frau der Flügel wachsen. Sie singt ein Lied, eine Arie der Liebe zur Fremde.

 

3

 

Spiegel sucht Fatma auf, die er als seine Leihgabe, seinen Besitz ansieht, im Hause Königsmarck. Dort hat er sie zu treuen Händen als Dienerin untergebracht. Um ihre Herrin, Maria Aurora und Fatma zu beeindrucken, brüstet er sich mit seinem Verhältnis zu August dem Starken. Der war Spiegels jugendlicher Freund, so erzählt Spiegel, schaute auf, zu ihm, dem Älteren. Er brachte ihm, dem galanten, zarten Zweitgeborenen bei, mit der Schlinge auf Vögel zu schießen und so zu prahlen, dass Hufeisen und Wirklichkeit von Menschenhand sich biegen lassen.

 

(August bewundere und vertraue ihm. Fatma gibt vor, nicht zu verstehen, zeigt sich beeindruckt, wenn Spiegel wild gestikulierend versucht, sich verständlich zu machen, und verabscheut ihn doch insgeheim. Maria Aurora hingegen ermutigt ihn zu noch mehr Prahlerei, der stapelt hoch, von einer Fantasterei zur nächsten.)

 

4

 

Reigen / Zeitraffer:

Rauschhaft rasen die Jahre dahin. Fatma lernt singend die Sprache. Sie verwandelt sich von einer edlen Osmanin in eine europäische Hofdame. Sie erlernt die Gepflogenheiten, Maria Aurora von Königsmarck wird ihre Taufpatin, eine mütterliche Freundin, Lehrerin, gebildete Patin und Beschützerin. Fatma genießt Maria Auroras Vertrauen, wird zur Betreuerin des Sohnes, Teil des Hauses Königsmarck. Doch im Geheimen besingt Fatma weiter ihr Schicksal, die Zähmung ihres Albtraums. Sie verbirgt ihr Misstrauen, ihre Einsamkeit, ihre geheimnisvolle Herkunft.

 

5

 

Spiegel möchte Fatma bei Hof einführen und präsentiert sie als zivilisierte Fremde, als gezähmte Wilde. Fatma beeindruckt August, als sie ihm, dem Liebhaber der Künste, ein deutsches Lied vorsingt. Er ist hingerissen von ihrer Andersartigkeit, will auch ein türkisches Lied hören, umschwärmt sie und schenkt ihr schließlich ein Cembalo.

 

  1. Akt

 

6

 

Maria Aurora ist Fatmas Vertraute und, so zeigt sich, zugleich Augusts Mätresse. Ihre Zuneigung wird brüchig, nachdem sie beobachtet, wie Fatma ihr in Augusts Kosmos den Platz streitig macht. Sowohl sie, als auch Spiegel sind beunruhigt, ja, eifersüchtig über Augusts Interesse an der Türkin. Der lädt Fatma mit Maria Auroras Sohn nach Polen ein. Es ist sein Kind, gesteht Maria Aurora unter Tränen, sie will den Jungen und auch August nicht verlieren. Fatma ist wahrhaft bestürzt. Genauso, wie sich selbst in ihrer Ohnmacht und den Jungen, bedauert sie die Königsmarck. Wild beschimpft die Fatma. Die jedoch ist höheren Kräften ausgesetzt, was soll sie tun, dem Ruf des Königs widerstehen?

 

7

 

Auf der Kutschfahrt nach Warschau, mit Augusts und Maria Aurora von Königsmarks Sohn, singt Fatma von drei Arten der Liebe, Muhabbet, der Agape, der selbstlosen, der Feindesliebe; Dostluk, der Philia, der freundschaftlichen Liebe und Şehvet, dem Eros, die sie in ihrem Leben zu finden hofft. Der Junge fragt, welchen Namen die väterliche und die Mutterliebe trage.

 

 

Drei Nächte im Schloß:

 

8

 

In der ersten Nacht will August Fatma für sich gewinnen, doch sie ist zurückhaltend. Zu welcher Form der Liebe sie denn fähig sei, fragt er. Ob die Türken denn die Feindesliebe kennen, die Agape? Ein goldener Käfig sei die Muhabbet, antwortet Fatma. Ein Käfig mit geöffneter Tür. Baue mir einen Käfig und ich werde dir die Muhabbet zeigen.

 

Die Königsmarck erscheint vor Hof und kann der Fatma doch nicht vergeben.

 

9

 

In der zweiten Nacht will August Fatma für sich gewinnen, doch sie ist zurückhaltend. Zu welcher weiteren Form der Liebe sie denn fähig sei, fragt er. Ob die Türken denn die freundschaftliche Liebe kennen, die Philia? Ein Turm sei die Dostluk, gewachsen wie ein Minarett, von dem man vielstimmig die Freundschaft singe. Ein schöner Turm auf freiem Feld. Baue mir einen Turm und ich werde dir die Dostluk zeigen.

 

Spiegel erscheint zu Hof und August kann ihn doch nur wieder demütigen.

 

10

 

In der dritten Nacht will August Fatma für sich gewinnen, doch sie ist zurückhaltend. Zu welcher weiteren Form der Liebe sie denn fähig sei, fragt er. Ob die Türken denn die Begierde kennen, den Eros? Wie ein paar Flügel zum Fliegen sei die Şehvet, mit denen man sich in Freiheit umfliegen könne. Baue mir Flügel und ich werde dir die Şehvet zeigen.

 

August und Fatma schlafen miteinander unter den missbilligenden Blicken des Volkes.

 

  1. Akt

 

11

 

August ist hin und hergerissen zwischen seiner Lust, sich mit anderen Mätressen zu vergnügen und der besonderen Tiefe seiner Liebe zu Fatma. In einem Traum erscheint sie ihm als Sultanin, er selbst an ihrer Seite. Das macht ihm Angst, denn er erkennt, dass er Fatma nicht beherrschen kann. Etwas an ihr bleibt ihm fremd.

 

Als er erfährt, dass sie ein Kind von ihm erwarte, ruft er Spiegel zu sich und befiehlt den beiden zu heiraten, um den Ruf Fatmas und des Kindes zu schützen. Spiegel fügt sich der erneuten Demütigung.

 

12

 

Im Auftrag Augusts soll Spiegel ein gewaltiges Osmanisches Fest organisieren, zu dem der auch heimlich einen hohen Gesandten, den Sohn des Sultans einlädt, denn er will die politische Allianz. Das Fest nimmt einen rauschhaften Verlauf, in dem August als Sultan erscheint, Fatma als Sultanin und schließlich Selim zu Pferd, der zu aller Überraschung als Sachse erscheint. Die Spannung der Szene eskaliert vollständig als Fatma im Gesandten ihren geliebten und totgeglaubten Selim erkennt, ihren leiblichen Bruder. Da entfacht sich in ihr die glühende Flamme ihrer alten Liebe und zugleich erkennt sie, dass das Trauma ihrer Geschichte schwerer wiegt als alle unvollständigen Beziehungen, die sie gesponnen hat. Sie klettert auf sein Pferd und will mit Selim fliehen, doch Soldaten ziehen sie herunter und bringen sie fort.

 

13

 

In einer letzten Begegnung Fatmas, Augusts, Spiegels, Selims, Königsmarcks und des Jungen entspinnt sich eine fantastische Intrige: Wer versteht mehr von Grausamkeit als die, die Leid erfahren?, sagt Fatma und vernichtet Spiegel, indem sie August erklärt, Spiegel habe sie, die von ihm Schwangere, missbraucht. Sie enthüllt, dass sie die verlorene Tochter des Sultans sei. August hätte Sultan sein können, hätte er sich zu ihr bekannt. Doch sie beendet die Beziehung zu ihm, denn er habe sie nie als Ebenbürtige gesehen. Sie könne ihn nicht lieben, sondern nur Selim, ihren leiblichen Bruder. Kannst niemals wahrhaft mir begegnen, wenn du mich nicht als deinesgleichen anerkennst. Als Handelnde, mehr nicht, als Mensch, nicht weniger.

 

 

14

 

In einer Beugung der Wirklichkeit, durchschreitet Fatma die Tür ihres goldenen Käfigs, erklimmt ihren Turm, streift ihre Flügel über und fliegt vielstimmig singend davon, in eine Zukunft, in der die Menschen sich als Menschen begegnen.

 

15

 

Der Junge spricht zu August und Maria Aurora von Königsmarck:

 

Vater,

Mutter,

 

Fatma:

||: sie, lieb

ich mehr

als dich,

liebt sie

mich mehr

als :||

sich.

 

und fliegt mit Fatma fort.

 

 

 

 

Versuche für die Fatma

 

Es ist kein Schweiß, nein, das Pferd ist nass vom Blut, das heiß über sein schwarzes Fell strömt. Seine Augen glänzen dunkel auf dem rotgeäderten Weiß weit aufgerissener Augäpfel. Ein intensiver Geruch nach Rose und Kumin, vermengt mit Eisen, raubt Fatma den Atem. Das Pferd scheut, flüchtet in die Dunkelheit, erscheint wieder, wie in tausendfacher Zeitlupe einer Hochgeschwindigkeitskamera. Es schnaubt, es scharrt, es atmet ein in kurzen Stößen, wie ein weinend Kind, sich selbst überlassen.

 

Ob Fatma träumt? Wir wissen es nicht. Es ist ihre Vision, ihr Körper eingezwängt zwischen anderen namenlosen Körpern, deren Gesichter wir nicht erkennen.

 

Da entfaltet das Tier seine adlerhaften Schwingen, gleich einem Engel Caravaggios, der Fieberfantasie eines Wahnsinniggewordenen.

 

Fatma erkennt in ihm Tulpar, den Pegasus.

 

Mit aller Kraft tritt es an, eins, zwei, drei Sätze, es springt ins Nichts, gewinnt kraftvoll an Höhe, beschreibt mit grandiosem Flügelschlag eine spiralförmige Himmelfahrt um Fatma, die ihm nachblickt, bis es erneut von der Dunkelheit verschluckt wird. Ein Nieselschauer aus versprengtem Pferdeblut geht auf sie nieder und durchnässt sie bis auf die Knochen.

 

In Wirklichkeit befindet sich Fatima, eine junge Frau, nein, ein Mädchen von kaum 16 Jahren, in einer Kutsche in rasender Fahrt auf dem Weg aus ihrer Heimatstadt Budin nach Dresden. Sie ist Beute, eine Gefangene der Sachsen, die in diesem späten Sommer des Jahres 1686 an der Seite der kaiserlichen Armee, einen vernichtenden Sieg über die Osmanen errungen haben. Die Kutsche fliegt durch die dunkle Nacht und das Mädchen Fatma realisiert, dass sie alles verloren hat: die Mutter, den Vater, den Bruder. Jedwede Gewissheit, Nämlichkeit, sich selbst. Um sie herum Fremde, Männer, Soldaten, Peiniger, deren Sprache sie nicht kennt, deren Gerüche und Gepflogenheiten ihr bedrohlich sind, wie die Ungewissheit, ob sie den nächsten Tag erleben werde oder die Fahrt nur Aufschub ist für die vernichtende Gewalt, die ihre Familie auslöschte. Die Welt verkleinert sich um Fatma. Eingepfercht zwischen fremden Körpern als Gefangene ist‘s, als verschwände ihre Sprache, gleich einer Zunge, die sie verschluckt, die fortan in falscher Richtung in den Hals hineinwächst, anstatt warm und weich im Mund zu liegen. Sie schließt die Augen und sucht Trost in ihrem Inneren. Das tosende, weiße Rauschen, das alles Außen löscht, verformt sich und sie hört den zartesten Klang, der ihr im Leben widerfahren ist. Eine Melodie aus tiefer Vergangenheit, die ihr den Trost stiftet, nach dem sich ihre Seele sehnt. Da beschleunigen die sechs Tulpare, die die Kutsche ziehen, die Räder verlieren den Kontakt zur Erde. Im schwebenden Klang entspinnen sich Fatmas Gedanken.

 

FATMA (auf türkisch):

Was geschieht mit mir?

Budin, meine Stadt,

von Eurer Hand vernichtet,

hasse, hasse, hasse ich Euch,

dass ihr mich quält mit Leben.

 

Mörder, Schänder, Mensch-, Gottlose,

vernichtet habt ihr,

ausgelöscht,

alles, was mir Lebensliebe war

und versagt mir jetzt

Erlösung?

 

SPIEGEL:

S‘ist keine Luft zum Atmen.

Lebensmüd‘,

Erstick‘ ich gleich

 

FATMA (auf türkisch):

Seid gütig,

gewährt mir Tod.

 

SPIEGEL:

Das Mädchen

macht mich schwindeln,

versüßt die schweren Atemzüge

mir …

 

FATMA (auf türkisch), um sich blickend:

Ich hasse dich und

dich und

dich und

dich und

Wer von euch

hat Blut

nicht an den Händen?

Verbrannt, erwürgt, ertränkt,

all Juden,

all Muslime,

all Menschenfürchtige,

die hier in Frieden

lebten?

Habt Gnade uns erwiesen?

Uns?

Uns?

Uns?

Zeigt Mut,

erlöst mich

von der Scham

von Pein,

zu sein.

Das hieße Gnade!

 

SPIEGEL:

Schwindelt mir,

wie einem

geilen Tier?

Ich schäm mich nicht.

Ist Begierde kein

höchst irdisch‘ Sein?

Erfüllung!

 

FATMA (auf türkisch), zu Spiegel:

Töte mich!

 

Spiegel:

Menschgegeb‘ne Macht?

 

FATMA (auf türkisch):

Töte mich!

 

SPIEGEL:

Gottgegebne Macht?

Wolle mich.

 

FATMA (auf türkisch):

Töte mich!

 

SPIEGEL:

Wolle mich,

so rett‘ ich dich.

 

FATMA (auf türkisch):

Töte mich!

 

SPIEGEL:

So rett‘ ich,

denn ich will dich.

 

FATMA (auf Deutsch):

Umgeben von Mördern und Bestien, jeder Liebe beraubt, der Liebe meiner Mutter, der Liebe meines Vaters, der Liebe meines Selim und meiner eignen Liebe zu jenen und der verbotenen, glühenden, erst neu entdeckten zu ihm, Selim, empfinde ich den Abgrund, schwerer als mein eigner Tod. Die in den Rachen weisende Zunge, aus der ein steter, heißer Blutstrom, mir in die Kehle rinnt und mir den Atem raubt, und doch mich nicht ersticken lässt. Trauer? Wut? Hass? Nichts von alldem bleibt. Nur Leere, Vakuum, wie tief verloren in Sternenzwischenräumen. Selim, Geliebter, wärst nur du bei mir geblieben, ich wüsste, es gäbe Grund zu leben. Doch so: …

 

SPIEGEL:

Berauscht vom Mord an denen, die sich uns entgegenstellten und uns, mit Hilfe Gottes, der den Guten und den Starken beisteht, nichts entgegensetzen konnten. Vernichtet, ins Nichts genichtet. Muslime: geschändet. Juden: getötet. Deren Kinder und Frauen: versklavt. Und dann, dann du, du, du zu meinem Lohn. Gott, bin ich geil. Dem wilden Tier gleich sollst du zur Liebe fähig sein und mir Frieden stiften. Für immer dich besitzen oder mit dir handeln? Zu meinem Vorteil wird sich‘s wenden lassen.

 

FATMA (auf türkisch):

Selim, toter Geliebter, erhöre mich. Glücklich erst, wenn ich dich wiedersehe,

(an Spiegel gewandt)

Hör Mann,

töte mich,

damit ich

lieben kann.

 

 

Fatma, alleine:

 

Von

Mutter

 

||: lernt ich

Traum

nieder zu

schreiben

so, dass

er nicht

wieder zu

kehren :||

braucht

 

als greller Nachtmahr

der Gegebenheiten.

Als wär‘ die Zeit ||: Duft von Schwarzem Mohn beschwerte Lider der Furcht mit Engelsdaunen fremder Liebe. Schlafend hellwach, die Neuigkeit mit gebroch’nen Flügeln hinter’m Haus und Heilung findend im Tagtraum Leben. Vor dem Jetzt unendliche Vergangenheit, nach dem Jetzt endlose Zukunft als wär die Zeit ein Seil im tiefen Raum und wir ein Nichts auf immer halbem Weg. oder: alles liegt in diesem Hier :|| wie Duft von Schwarzem Mohn als wär die Zeit

.

DEVON HONFIELD

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02 Mai 2025

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